syntra: Herr Grey, Betroffene empfinden das „Setzen auf den Pflichtteil“ zuweilen als Benachteiligung, sehen den anderen als bevorzugt an. Stimmt dies? Wo liegt der Unterschied zwischen Erbe und Pflichtteil?
Grey: Der Pflichtteil ist „begriffsjuristisch“ gesprochen kein echter Anteil am Erbe. Er ist nicht einmal ein kleines Erbe. Er ist etwas anderes: nämlich ein Zahlungsanspruch gegen denjenigen, der tatsächlich Erbe geworden ist.
syntra: Was bedeutet dieser Unterschied im richtigen Leben?
Grey: Ich gebe mal ein Beispiel: Nach dem Tod des letzten Elternteils befinden sich im Nachlass neben Grundbesitz auch antike Möbel und eine Bildersammlung. Das Testament sagt unter anderem: „Unser Sohn bekommt seinen Pflichtteil.“ Der Sohn ist Künstler und liebte die Sammlung schon zu Lebzeiten. Die Tochter ist Bankkauffrau und möchte den gesamten Nachlass verkaufen. Das Verhältnis der Beiden ist gespannt, da der Bruder sich aus Sicht der Tochter um nichts gekümmert hat. Da stellt sich die Frage, ob der Sohn wenigstens einen Pflichtanteil an Bildern herausnehmen kann. Erbe und Pflichtteil sind – anders als umgangssprachlich – rechtlich klar zu unterscheiden. Der Erbe ist der universale Rechtsnachfolger des Verstorbenen. Er oder sie tritt in alle vermögensrechtlichen Rechte und Pflichten des Verstorbenen ein. Was dem Verstorbenen gehörte, gehört mit dem Erbfall dem Erben. Was der Verstorbene schuldete, schuldet mit dem Erbfall der Erbe. All dies geschieht ohne Mitwirken oder auch nur das Wissen des Erben. Allein der Tod löst diese Rechtsfolgen aus, ob wir es wollen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht. Der Erbe rückt im Augenblick des Todes in die Position des Erblassers ein.
syntra: Bleibt dies auch auf Dauer so?
Grey: Diese Überlegung betrifft die etwaige Ausschlagung eines Erbes und ist ein anderes Thema. Konkret bedeutet eben beschriebene Universalnachfolge: Besaß der Verstorbene Grundbesitz oder einen Anteil daran, so gehört der Grundbesitz oder der Anteil jetzt dem Erben. Besaß er eine Bildersammlung, so ist mit dem Erbfall die Tochter Alleineigentümerin. Diese Rechtsfolge tritt gesetzlich zwingend ein und betrifft ganz und gar jeden Gegenstand, der dem Verstorbenen gehörte oder mitgehörte. Anders erlebt dies der enterbte Pflichtteilsberechtigte. Ihm wird nichts vererbt und ihm gehört nichts vom Erbe. Und zwar ganz und gar nichts. Ihm gehört nicht einmal nur ein kleiner Pflichtanteil an den einzelnen Gegenständen. Er bleibt außen vor. Dies gilt im Guten wie im Bösen. Denn andererseits schuldet er auch niemandem etwas, nur weil der Erblasser es schuldete. Der Pflichtteil ist nur ein Zahlungsanspruch gegen den Erben. Wie hoch dieser Zahlungsanspruch ist, hängt von der Erbquote und dem Wert des Nachlasses ab.
syntra: Wonach richtet sich diese Erbquote?
Grey: Die Erbquote richtet sich gesetzlich nach der Abstammung. Abkömmlinge, sprich rechtliche oder angenommene Kinder, erben nach Köpfen. Vorliegend hätte der Sohn somit neben seiner Schwester eine Hälfte des Vermögens geerbt. Der Pflichtteil ist eine gesetzlich vorgeschriebene wirtschaftliche Mindestbeteiligung und beläuft sich in der Höhe rechnerisch auf die Hälfte des Wertes der gesetzlichen Quote. Im Beispiel somit auf ein Viertel. Die Pflichtteilszahlung müsste vorliegend also genauso hoch sein, wie ein Viertel des Erbes wert ist.
syntra: Wie kann man den Pflichtteil geltend machen?
Grey: Der Pflichtteilsberechtigte ist - anders als der Erbe - nicht bereits mit dem Erbfall am Erbe beteiligt. Er muss seinen Anspruch erst geltend machen. Ohne Geltendmachung passiert nichts. Der Erbe muss insbesondere nicht auf den Pflichtteilsberechtigten zukommen. Er kann warten, bis der Pflichtteilsberechtigte sich meldet. Wie sollte dieser vorgehen? Oft höre ich: „Ich will nur, was mir zusteht.“ Dieser durchaus richtige Ansatz bedeutet: Zur korrekten Bezifferung des Pflichtteils ist der Wert des Nachlasses zu ermitteln. Da der Pflichtteilsberechtigte oft nichts oder nur wenig Konkretes über das Vermögen des Erblassers weiß, kann er Auskunft und Wertermittlung vom Erben verlangen.
Vielen Dank für dieses Interview, Herr Grey!
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